09 Evolution: vom egoistischen Gen zum kooperativen Individuum

Autor: Volkart Wildermuth

Evolution: vom egoistischen Gen zum kooperativen Individuum

Mit der Evolutionstheorie erklärt Charles Darwin die Biologie. Aber schon zu seinen Lebzeiten wurden Begriffe wie „der Kampf ums Dasein“ auch verwendet, um Politik zu machen. Sozialisten und Nationalisten beriefen sich auf Darwin,

für  Sozialdarwinisten wurde der „Kampf ums Überleben“ zu einem  Naturgesetz, wurde Darwins Vorstellung vom unterschiedlichen  Fortpflanzungserfolg einzelner Individuen umgedeutet in einen schicksalhaften Überlebenskampf unterschiedlicher Menschenrassen.  Am Ende stand der Holocaust.

Bis heute prägen Evolutionstheorien Menschenbilder. So machte Richard Dawkins den Begriff des ‚egoistischen Gens‘ populär. Und meinte später selber, dass die Konzentration auf diesen Begriff in die Irre führt. Denn die Geschichte der Evolution von uns Menschen ist ganz wesentlich eine Geschichte der Evolution von Kooperationsfähigkeit.

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Sendung als Podcast

Download Funkkolleg Biologie und Ethik (09), MP3-Audioformat, 27:42 Min., 50.7 MB

Sendung in hr-iNFO: 13.01.2018, 11:30 Uhr

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Zusatzmaterial

  1. Evolutionstheorie / Natürliche Selektion / Kampf ums Dasein / Sozialdarwinismus
  2. Soziobiologie
  3. Das egoistische Gen
  4. Das Sprachgen FOXP2

Empfehlenswerte Literatur zur Sendung

  • Darwin, Charles (1875 [1871]). Die Abstammung des Menschen und geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. In zwei Bänden. I. Band. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). (http://caliban.mpipz.mpg.de/darwin/werke05/index.html)
  • Darwin, Charles (1860). Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehehn von H. G. Bronn. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung und Druckerei. (http://caliban.mpipz.mpg.de/darwin/arten2/index.html)
  • Dawkins, Richard (2014 [1976]). Das egoistische Gen. 2., unveränd. Aufl., unveränd. Nachdr., Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum.
  • Dawkins, Richard (2008 [1986]). Der blinde Uhrmacher: Warum die Erkenntnisse der Evolutionstheorie zeigen, daß das Universum nicht durch Design entstanden ist. 2. Aufl., München: dtv.
  • Nagel, T. (2016 [2012]). Geist und Kosmos: Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. 2. Aufl., Berlin: Suhrkamp. 187 Seiten, ISBN: 978-3-518-29751-3.
  • Peetz, K. (2013). Der Dawkins-Diskurs in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 335 Seiten, ISBN: 978-3-525-57026-5.
  • Ayala, F.J. (2000). Theodosius Dobzhansky: A Man For All Seasons. Resonance: 48-60. (http://www.ias.ac.in/article/fulltext/reso/005/10/0048-0060)
  • Ayala, F.J. & Fitch, W.M. (1997). Genetics and the origin of species: An introduction. Proc Natl Acad Sci U S A 94 (15): 7691-7697. (PDF)
  • Dobzhansky, T (1973). Nothing in Biology Makes Sense except in the Light of Evolution. The American Biology Teacher 35 (3): 125-129. (DOI: 10.2307/4444260) (PDF)
  • Engels, E-M. (Hrsg.) (1995). Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 448 Seiten, ISBN: 978-3-518-28829-0.
  • Engels, E-M. (Hrsg.) (2009). Charles Darwin und seine Wirkung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 466 Seiten, ISBN: 978-3518295038.
  • Engels, E-M. (2009). Charles Darwin. München: Beck. 256 Seiten, ISBN: 978-3-406-54763-8.
  • Laland, K. N. (2017). Darwin’s Unfinished Symphony: How Culture Made the Human Mind. Princeton: Princeton University Press. 450 Seiten, ISBN: 978-0-691-15118-2.
  • Mosbrugger, V & Traxler, H. (2008): Darwin für Kinder und Erwachsene“ Insel Verlag. 115 Seiten. ISBN: 9783458174127
  • Sarasin, P. & Sommer, M. (Hrsg.) (2010). Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart [u.a.]: Metzler. 433 Seiten, ISBN: 978-3-476-02274-5.
  • Storch, V./ Welsch, U./ Wink, M. (2013). Evolutionsbiologie. 3. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum. 570 Seiten, ISBN: 978-3-642-32835-0.

1. Evolutionstheorie

Charles Darwin beschrieb in seinem Buch „On the origin of the species by means of natural selection“ die Idee einer Abstammung der heutigen Lebewesen von früheren einfachen Formen und entwarf eine Darstellung der Ursachen für die Evolution der Organismen. Seine Gedanken beruhten auf der Beobachtung, dass bei der Tierzüchtung eine Auslese (Selektion) durch den Züchter erfolgte. Dieser wählte fortwährend nur solche Mutanten aus, die ihn besonders beeindruckten (Entstehung der Taubenrassen durch künstliche Selektion: So sind die Haustaubenrassen, Kröpfer, Bagdette, Perückentaube, Strasser, Mookee und Pfauentaube aus der Wilden Felsentaube hervorgegangen). Bei der Beobachtung der nach ihm benannten Finkenvögel der Galapagos-Inseln kam Darwin zu der Vermutung, dass alle Finkenarten des Archipels aus einer Stammart entsprungen seien (natürliche Selektion). In Anlehnung an Malthus‘ wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung der Bevölkerungstheorie entwickelte Darwin eine Selektionstheorie, die er auf alle Lebewesen anwandte:

  1. Die Lebewesen erzeugen viel mehr Nachkommen, als zur Arterhaltung notwendig wären. Bei stabilen Umweltbedingungen in einem Lebensraum bleibt die Zahl der Individuen einer Art über längere Zeit hinweg dennoch konstant.
  2. Die Nachkommen eines Elternpaares sind nicht alle untereinander gleich, sondern variieren in ihren Eigenschaften.
  3. Lebewesen stehen untereinander in ständiger Konkurrenz um begrenzte Ressourcen.

In diesem Wettbewerb (struggle for life) überleben nur die am besten an ihre Umwelt angepassten Individuen. Deren Erbmerkmale werden an die Folgegenerationen weitergegeben (survival of the fittest). Dieser Mechanismus der Evolution wurde im Laufe der Geschichte vielfach falsch wiedergegeben und politisch missbraucht. „Der Kampf ums Dasein“ ist eine unglückliche Formulierung von Darwins struggle for life (struggle bedeutet nämlich Wettbewerb und nicht Kampf), die mit der negativen Konnotation in einen Sozialdarwinismus und Rassismus Eingang gefunden hat. Im Sinne der Evolutionstheorie spielt allein dasjenige Individuum eine Rolle, das die höchste Zahl von Nachkommen produziert, die sich ihrerseits wieder fortpflanzen. Mit Darwin lassen sich daher weder soziale Unterschiede biologisch begründen, noch ein Recht des Stärkeren ableiten.

Durch die innerartliche Konkurrenz erfolgt eine Anpassung an die Umwelt durch natürliche Auslese (natural selection). Diese natürliche Selektion führt zu einer Aufspaltung einer Art in verschiedene Arten (s. Bsp. Darwinfinken). Eine natürliche Selektion kann jedoch auch zwischenartlich erfolgen. Ein klasisches Beispiel ist der Industriemelanismus. Beim Birkenspanner entstehen immer wieder dunkelgefärbte Mutanten.

Die nicht mutierten Exemplare unterscheiden sich durch Fleckenzeichnungen auf den hellen Flügeln nur wenig von der Rinde der Birken und flechtenbewachsenen anderen Baumstämmen. Helle Exemplare des Birkenspanners werden daher von natürlichen Fressfeinden oft übersehen. Die dunklen Exemplare jedoch heben sich darauf deutlich ab und werden bevorzugt gefressen. Im Zuge der Industrialisierung setzte sich auf den Rinden der Bäume schwarzer Ruß ab. Die Luftverschmutzung veränderte die Überlebenschancen der Birkenspanner entscheidend: Die schwarzen Mutanten waren nunmehr im Vorteil, da sie mit ihren dunkel gefärbten Flügeln nicht mehr für Fressfeinde erkennbar waren. Die hellen Falter stattdessen wurden plötzlich zur bevorzugten Nahrungsquelle für Insektenfresser.

Die folgenden beiden Lernvideos behandeln anschaulich die Themen „Natürliche Selektion“ und „Industriemelanismus“:

 

 

Weiterführende Videos zum Thema Evolution

In der Öffentlichkeit weniger bekannt: Zur gleichen Zeit wie Charles Darwin hat der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913) die Theorie der natürlichen Auslese entdeckt:

Weiterführende Materialien zur natürlichen Selektion

Weiterführende Literatur zum Thema Sozialdarwinismus

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2. Soziobiologie

Verhaltensweisen mit Selektionsnachteil, d.h. die Häufigkeit der Allele, die für ein nicht vorteilhaftes Verhalten verantwortlich sind, nehmen von Generation zu Generation ab. In einer stabilen Umwelt erfolgt die Evolution von Verhaltensmerkmalen so, dass die Fitness zunimmt. Nehmen wir das Beispiel des Nahrungserwerbs. Ist ein Tier auf der Suche nach Nahrung, hat es nicht nur den Nutzen der aufgenommenen Energie, sondern auch Kosten. Diese Kosten können direkt sein, da die Suche und das Jagen der Beute mit Energieverbrauch einhergeht, oder indirekt, z.B. wenn sich ein Tier auf Nahrungssuche dabei der Bedrohung durch natürliche Feinde aussetzt.

Bei sozial lebenden Tieren muss ein verbesserter Schutz vor natürlichen Feinden durch die Gruppe als Nutzenzuwachs (Fitnesszunahme) größer sein als die Kosten (Fitnessabname) durch beispielsweise stärkere Konkurrenz um Nahrung. Verschiedene Säugertierarten haben ein Schutzsystem entwickelt. Ein Tier informiert die Herde über einen sich annähernden Fressfeind, indem es Warnsignale gibt. Zugleich erregt es die Aufmerksamkeit des Feindes und verringert seine eigene Überlebenschance zugunsten der Überlebenschance seiner Herdenmitglieder. Dieses Verhalten nennt man altruistisch (Altruismus). Sind die Gene, die für das Verhalten des warnenden Tieres verantwortlich sind, an genügend Nachkommen weitergegeben worden, eine Zunahme des Genpools vorausgesetzt, hat dieses Verhalten ein Selektionsvorteil. Weiterführende und detaillierte Literatur zum Thema Sozialbiologie finden Sie hier:

In einer englischen (und teilweise deutsch übersprochenen) Dokumentation des berühmten Soziobiologen Edward O. Wilson von 1977 wird das Verhalten sozialer Tiere erklärt:

 

Vorlesung des Rechts- und Sozialphilosophen Norbert Brieskorn von der Hochschule für Philosophie, München, zur Soziobiologie, und dazu, was diese für die Gesellschaft bedeutet:

 

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3. Das egoistische Gen

Die Welt: Das egoistische Gen bestimmt unser Leben: https://www.welt.de/wissenschaft/article92536/Das-egoistische-Gen-bestimmt-unser-Leben.html

Anhäuser, M (2010). Der wahre Egoist kooperiert. SZ Online (http://www.sueddeutsche.de/wissen/biologie-der-wahre-egoist-kooperiert-1.911746)

Fischer, EP (2016). Nur den eigenen Vorteil im Sinn: Gibt es das egoistische Gen? Focus Online (http://www.focus.de/wissen/experten/ernst_peter_fischer_/gene-und-gefangene-dawkins_id_5369491.html)

Ein von Richard Dawkins, dem Verfasser von „Das egoistische Gen“ selbst als sein bestes Buch betrachtetes Werk, „The Extended Phenotype“ (1982), erschien 2010 erstmals auf Deutsch. Er erweitert in diesem Werk den Begriff des Phänotyps (die Summe aller Merkmale eines Individuums) auf die Auswirkungen der Gene dieses Individuums auf die Umwelt und andere Lebewesen:

Dawkins, R. (1982). Der erweiterte Phänotyp: Der lange Arm der Gene. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2010. 350 S. ISBN 9783827427069

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/richard-dawkins-der-erweiterte-phaenotyp-die-umwelt-muss-man-sich-eben-anzupassen-wissen-1582615.html

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4. Das Sprachgen FOXP2

Die Frage, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, wird oft mit seiner Sprachfähigkeit beantwortet. Sprache wird mit Denken, Kommunikation, schriftlicher Überlieferung von Informationen und Kultur in Verbindung gebracht. Das FOXP2-Gen spielt bei der Sprachentwicklung eine wichtige Rolle. Dieses Gen ist bei Säugern weit verbreitet. Das menschliche FOXP2-Protein besitzt jedoch zwei eigene Aminosäuresubstitutionen: Threonin (Thr) wird durch Asparaginsäure (Asp) und Arginin (Arg) durch Serin (Ser) ersetzt. Interessant ist, dass auch beim Neandertaler das FOXP2-Gen entdeckt wurde.

Aber wie wurde das FOXP2-Gen mit der Sprachfähigkeit in Verbindung gebracht? Im Jahre 1990 wurde erstmalig bei der sogenannten „Londoner KE-Familie“ eine erbliche Sprachstörung beschrieben. Die Betroffenen hatten erhebliche Schwierigkeiten mit Grammatik, Satzbau und Wortschatz, sowie Probleme mit der Aussprache aufgrund mangelnder Koordination von Muskelbewegungen von Zunge und Gesicht. Genetiker entdeckten 1998 einen Abschnitt auf Chromosom 7, den sie für die Sprachdefizite verantwortlich machten. Im Folgenden sehen Sie den Stammbaum der Londoner KE-Familie. Der Erbgang ist autosomal-dominant (d.h., bereits ein defektes Allel auf einem der beiden homologen Chromosomen reicht zur Merkmalsausprägung).

Stammbaum der Londoner KE-Familie

Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/95/KE-Family_pedigree_01.png

Weiterführende deutschsprachige Literatur

Weiterführende englischsprachige Literatur

  • Deriziotis, P & Fisher, SE (2017). Speech and Language: Translating the Genome. Trends in Genetics 33 (9): 642-656. (DOI: 10.1016/j.tig.2017.07.002) (PDF)
  • Nudel, R & Newbury, DF (2013). FOXP2. Wiley Interdiscip Rev Cogn Sci 4 (5): 547-560. (DOI: 10.1002/wcs.1247) (PDF)
  • Krause, J et al. (2007). The derived FOXP2 variant of modern humans was shared with Neandertals. Curr Biol 17 (21): 1908–1912. (DOI: 10.1016/j.cub.2007.10.008)
  • Marcus, GF & Fisher, SE (2003). FOXP2 in focus: what can genes tell us about speech and language? TRENDS in Cognitive Sciences 7 (6): 257-262. (DOI: 10.1016/S1364-6613(03)00104-9) (PDF)
  • Lai, CSL et al. (2001). A forkhead-domain gene is mutated in a severe speech and language disorder. Nature 413 (6855): 519-523. (DOI: 10.1038/35097076) (PDF)
  • Lai, CSL et al. (2000). The SPCH1 Region on Human 7q31: Genomic Characterization of the Critical Interval and Localization of Translocations Associated with Speech and Language Disorder. Am J Hum Genet 67 (2): 357-568. (DOI: 10.1086/303011) (PDF)
  • Fisher, SE et al. (1998). Localisation of a gene implicated in a severe speech and language disorder. Nat Genet 18 (2): 168-170. (DOI: 10.1038/ng0298-168) (PDF)
  • Gopnik, M & Crago, MB (1991). Familial aggregation of a developmental language disorder. Cognition 39: 1-50. (DOI: 10.1016/0010-0277(91)90058-C)
  • Gopnik, M (1990). Feature-blind grammar and dysphagia. Nature 344 (6268): 715 (DOI: 10.1038/344715a0)
  • Hurst, JA et al. (1990). An extended family with a dominantly inherited speech disorder. Dev Med Child Neurol 32 (4): 352-355. (DOI: 10.1111/j.1469-8749.1990.tb16948.x)

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Die Materialien wurden zum Zugriffszeitpunkt 10.01.2018 erstellt von:
Volker Mosbrugger, Sybille Roller, Francesco Lupusella, Annette Klussmann-Kolb, Julia Krohmer, Rebecca Spitzenberger